Radio C

November 2000
Dienstag, 14.11.2000
Radio Bonn/SU

"Sincere" von MJ. Cole

"One Line" von P.J. Harvey

 

Seekrankheit und Luftröhrenschnitt.

Protokoll eines Gesprächs über zwei außergewöhnliche Filmereignisse, die, obwohl sie zum Besten gehören, was das Filmkunst-Kino zu bieten hat, einen Teil der Besucher gegen ihren Willen aus dem Kino treibt.

Peter: Jürgen, was beeindruckt denn zur Zeit die Bonner Kino-Besucher?

Erwartungsgemäß "Der Krieger und die Kaiserin" mit Benno Führmann, Franca Potente und Joachim Król.

Diese ungewöhnliche Liebesgeschichte von Regisseur Tom Tykwer entwickelte sich in den letzten Wochen im wahrsten Sinne des Wortes zum "Luftröhrenschnitt" des deutschen Kinos.

Die Szene nämlich, in der Bodo Sissi mit einem Luftröhrenschnitt das Leben rettet, ist so spannend und scheinbar so unmittelbar für den normalen Kino-Zuschauer, dass selbst gestandene Action-Film-Besucher das Kino zum Luftholen verlassen müssen ...

Peter: Woran liegt das? An der Klaustrophobie der Szene? Schließlich spielt sie unter einem Lastwagen, um den viele ratlose Menschen herumstehen. Während Bodo (Benno Führmann) unter dem Wagen erstmal in aller Ruhe erkundet, was Sissi (Franka Potente) denn fehlt. Und dann verlässt er sie auch noch erstmal wieder ... .

Jürgen: Diese klaustrophobische Stimmung wird sogar noch durch den Off-Kommentar von Sissi (Franka Potente) gesteigert, der dem Zuschauer den Eindruck vermittelt, als säße er in Sissis Kopf und wäre gerade mit ihr am ersticken.

Aber ich glaube, die Wirkung dieser Szene ist nicht allein durch die klaustrophobische Stimmung zu erklären. Auch ist sie im Vergleich zu vielem anderen, das es im Kino zu sehen gibt nicht ekelig oder brutal.

Ich glaube, diese Szene wirkt auf viele Zuschauer wie eine ‚Erste Filmerfahrung‘. Mit einer ‚Ersten Filmerfahrung‘ meine ich so etwas wie, dass man von der Eindrücklichkeit des Kinos überwältigt wird.

Solche Ersterfahrungen sind von den ersten Kinofilmen der französichen Filmpioniere Gebrüder Lumiere überliefert, oder dem Wintergarten-Programm der deutschen Filmpioniere, den Gebrüdern Skladanowski, bei dem die Zuschauer angesichts der scheinbar in den Zuschauerraum fahrenden Züge von den Sitzen sprangen. Vielleicht erinnern sich aber unsere Hörer auch an ihre ersten Kinoerfahungen in vielleicht nicht ganz Kind gerechten Filmen, von denen sie förmlich überwältigt wurden.

Ich komme erst bei der Protokollierung unseres Live-Gesprächs darauf:

Vielleicht haben ja einige Hörer Lust, uns ihre Kinoersterfahrung via E-Mail zu schildern, wir werden in der nächsten Sendung sicher noch einmal auf die Intensität und Leistungsfähigkeit des Mediums Kino eingehen. Vielleicht läßt sich hier ein weiterer Roter Faden gewinnen.

Peter:

Erstaunlich - eigentlich eine Reaktion, die man bis daher nur von den wackelnden Bildern eines Lars von Triers her kennt.

Trotzdem liegt Triers aktueller Film "Dancer in the Dark", noch hoch in der Publikumsgunst, auch wenn es richtig ist, dass ein Teil der Zuschauer den Film wegen der unruhigen Bilder nicht zu Ende schauen kann.

Das ist allerdings ein formaler Aspekt der nichts mit den Erfahrungen zutun hat, die man bei Tom Tykwer macht.

 

"Lust auf Anderes"

Seit Do., 9.11., in den Bonner Kinos.

Ein Film von Agnes Jaoui mit Anne Alvaro und Jean-Pierre Bacri. Dieser hintergründige Beziehungsreigen, um einen bodenständigen französischen Kleinindustriellen, der sich in eine Theaterschauspielerin verliebt und dadurch versucht sich in einer für ihn völlig fremden Welt von Intellektuellen und Künstlern zu orientieren, hat in Frankreich alle Besucherrekorde gebrochen.

In unnachahmlicher Weise gelingt es diesem Film mit kleinen sehr liebenswürdigen Alltagsminimalismen und Abstrusitäten die Zuschauer zu fesseln und famos zu unterhalten. "Lust auf Anderes" setzt an den Stellen der beobachteten Lebensläufe seine komödieantischen Hebel an, an denen sich die Betroffenen sich durch jahrelangen Stillstand in ihrer Haut selbst nicht mehr wohl fühlen. "Lust auf Anderes" schafft die Balance zwischen Alltagsdrama und Komödie, die das Leben einem täglich abfordert mit unvergleichlicher Bravour.

Gesprächsprotokoll: Was macht den französischen Film so anders als den deutschen?

Peter: Das hört sich nach einem herausragenden französischen Film an, was macht den Französischen Film so anders als den Deutschen?

Jürgen: Der französische Film scheint mir mehr dem ‚normalen‘ Leben zu gewandt, die Schauspieler haben auch als Person mehr Ecken und Kanten und scheinbar auch kulturell mehr zu sagen als ihr deutschen Kollegen.
In französischen Filmzeitungen werden Schauspieler als Künstler Persönlichkeiten und als Kulturschaffende, die beinahe einen Status von Lebensphilosophen haben dargestellt, bei uns sind Filmschauspieler meist mehr Stand ins oder Statisten.
In Frankreich fragt man einen Schauspieler wer er ist und nicht was er spielt. Dementsprechend wechseln in Frankreich viel mehr Schauspieler ins Regiefach oder sind auch als Autoren tätig als bei uns.
Agnès Jaoui zum Beispiel ist Schauspielerin, und hat nun mit "Lust auf anderes ihre erste Regiearbeit abgeliefert. Am bekanntesten in Frankreich ist sie aber als Drehbuchautorin. So hat sie zum Beispiel für viele Alain Resnais-Filme wie "Smoking no Smoking" oder "Das Leben ist ein Chanson", die Drehbücher geschrieben.

"Down" von Swell    
 

 

 
   

"The Virgin Suicides", ab 16.11. in den Bonner Kinos

"The Virgin Suicides" von Sofia Coppola. Ein absolut herausragendes Erstlingswerk der Tochter von Francis Ford Coppola.

Ein Stimmungsmeisterwerk über den mysteriösen Selbstmord von fünf Mädchen, geschildert aus der Sicht ihrer Nachbarsjungen. Ein Versuch über den manchmal unauslotbahren Abgrund des Erwachsenwerdens. Ein Film, der Vergleiche mit Ang Lees "Der Eissturm", Andrew Berkins "Der Zementgarten", aber auch mit Filmen von David Lynch und "American Beauty" nicht zu scheuen braucht.

 

"Waistin" von J. Mascis + The Fog    
 

Ab Donnerstag, 30.11., in den Kinos:

"Billy Elliot"

"Billy Elliot" ist ein Film, der die Herzen seiner Zuschauer im Sturm erobern wird und der in England und Frankreich für einen anspruchsvollen Filmkunstfilm bereits alle Besucherrekorde gebrochen hat.

Billy Elliot spielt in den 60er Jahren im englischen Arbeitermilieu.
Der etwas schwächliche Billy bekommt eines Tages von seinem Vater Boxhandschuhe in die Hand gedrückt, damit Billy im wahrsten Sinne des Wortes lernt, sich durch Leben zu boxen. Doch das Training im Box-Ring des örtlichen Sportvereins liegt Billy nicht besonders.
Dennoch geht er trotz vieler Rückschläge immer wieder hin, denn Billys Aufmerksamkeit wird zusehends von einer Ballettgruppe gefesselt, die gleichzeitig nebenan trainiert.

Es dauert nicht lange, bis Billy zum Mitmachen aufgefordert wird und merkt, dass wenn schon Sport, dann nur Ballettanz für ihn in Frage kommt.
Das aber einem Vater beizubringen, der seinen Sohn schon die ersten Preise als Boxer nach Hause bringen sieht, wird kein leichtes Stück Arbeit und bis der Vater die Talente des Sohns anerkennen kann, muss erst so manche alte Familien-Wunde geschlossen werden.

"Billy Elliot" ist eine ungewöhnliche und sehr berührende Vater-Sohn-Geschichte. Etwas ernster gehalten als "East is East" oder "Ganz oder gar nicht", aber dennoch famose Kinounterhaltung mit allen Qualitäten, die man am britischen Kino schätzen kann.

 

 
   

"Schmalspurganoven", ebenfalls ab 30.11. in den Bonner Kinos

"Schmalspurganoven" ist ein neuer Film von und mit Woody Allen, und um es gleich vorweg zu nehmen, es ist der witzigste und beste Woody Allen seit langem.

Peter: Das liegt diesmal aber nicht allein an Woddy Allen?

Jürgen: Schon größtenteils, aber du hast recht, Allen hat sich diesmal eine geniale Mit- oder Gegenspielerin gecastet, die britische Schauspielerin, Sängerin und Moderatorin Tracey Ullman.

Tracey Ullman spielt Frenchy Winkler. Das Kreuz ihres Lebens ist ihr Mann Ray, das ist natürlich Allen, der sich für ein Verbrecher-Genie hält. Rays neuster Plan: Einen heruntergekommenen Pizza-Laden übernehmen und von seinem Keller aus einen Tunnel zur benachbarten Bank graben. Währenddessen soll Frenchy zur Tarnung die Pizzerria führen.
Die Winklers sind gerade umgezogen, als Frenchy bemerkt, dass sie eigentlich gar keine Pizzas backen kann. Ray dagegen hat bergmännische Sorgen und so meint er, dass es zur Tarnung reicht, wenn Frenchy Kekse bäckt. In einigen Tagen schwämme man sowieso im Geld. Gesagt - getan: Während der männliche Teil der Familie unter Rays fachkundiger Führung einen Erdrutsch nach dem anderen produziert, kann sich Frenchy, die von ihren Schwestern unterstützt ein Blech nach dem anderen bäckt, vor lauter Nachfrage nach ihren Keksen kaum retten. So kommen die Winklers auf überraschend legale Weise zu Geld, doch damit fangen dann ihre Probleme eigentlich erst an.

Peter: Das hört sich ja viel versprechend an, gibt es denn auch wieder einen prominenten Gaststar?

Jürgen: Ja, diesmal ist es Hugh Grant, der den Neureichen Winklers als britischer Kunsthändler beibringen soll, wie man Geld stillvoll ausgibt.

 

"Flowers on the Wall" von The Statler Brothers    
"Me & You Vs The World" von Space  
     

 

Das war es wieder. Radio C verabschiedet sich für einen langen Monat. Sie hören uns wieder am Dienstag, 12. Dezember.

Ich bedanke mich bei Florian Höfer in der Technik unserem Studio Gast Jürgen Lütz, mein Name ist Peter Goßens und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.

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